Luk und das Tigerkranabenteuer

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Heute erzähle ich euch die Geschichte von Luk. Er ist ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Luk trägt meistens gestreifte Kleider, weil er Tiger mag. Wenn ihr also Luk sehen würdet, dann würdet ihr ihn sofort erkennen: Von oben bis unten voller Streifen! 

Wo Luk wohnt, das weiss niemand so genau – ausser natürlich seine Eltern. Der Lausbub ist nämlich immer irgendwo unterwegs und erlebt die wildesten Abenteuer. Ich weiss das, weil er mir diese Geschichte selbst erzählt hat! Und weil sie mir so sehr gefallen hat, will ich sie euch berichten. 

Es war ein äusserst kalter Winter. So einer, bei dem Dampfwolken aus dem Mund herauskommen beim Reden, man immer eine Jacke anziehen muss und eine Mütze und Handschuhe – was furchtbar viele Kleider sind und es dauert eine halbe Ewigkeit, bis man endlich bereit ist, vor die Tür zu gehen. Das Schöne an solchen Wintern ist, dass es überall Eis gibt! Die Pfützen am Boden gefrieren nachts und glänzen tagsüber in der Wintersonne, an den Hausdächern hängen Eiszapfen und auf den Teichen und Tümpeln kann man sogar Schlittschuh laufen. Genauso war es eben in diesem einen Winter, in dem Luk sein grosses Abenteuer erlebt hat. 

Ihr werdet euch vielleicht wundern, aber die Geschichte, die ich euch jetzt erzähle, spielt in Liestal. Luk hatte nämlich von dem schönen Weihnachtsmarkt gehört, vom Esel- und Geissenstreichelzoo, vom kleinen Karussell und den vielen Leckereien, die es da jedes Jahr gibt. Also fasste er den Plan, am Samstag nach Liestal zu kommen. 

Am Samstagmorgen stand er schon ganz früh auf – nicht mal die Sonne war richtig wach. Luk war nämlich kein gewöhnlicher Junge, der wie gewöhnliche Menschen mit dem Zug oder dem Bus, dem Velo oder gar mit dem Auto irgendwohin fährt. Das wäre ja viel zu langweilig! 

Weil es so klirrend kalt war, beschloss er, mit den Schlittschuhen nach Liestal zu kommen. Aber wie sollte das gehen? Es hatte zwar schon ein paar Eispfützen und war manchen Orts auch sehr rutschig – aber viele Strassen waren gesalzen und gar nicht eisig. 

Davon liess sich Luk aber nicht aufhalten. 

Er holte seinen Leiterwagen aus dem Schopf, stellte einen Wassertank darauf und füllte ihn mit Wasser. Dann schnappte er sich seine grösste Wasserpistole (davon hatte er nämlich ein paar) und verband diese über einen Schlauch mit dem Wassertank. Weil es noch so früh war und so unglaublich kalt, brauchte er nur vor sich auf die Strasse zu spritzen – und schon gefror das Wasser blitzschnell zu Eis. 

Könnt ihr euch vorstellen, was für ein Spass das war! Rasch zog Luk seine Schlittschuhe an (natürlich auch seine Jacke, sein Halstuch, seine Handschuhe und ich brauche nicht zu erwähnen, dass die alle gestreift waren), holte seinen Reiserucksack voller nützlicher Abenteuerdinge und machte sich auf den Weg. 

An diesem frühen und kalten Samstagmorgen hatte es noch nicht viele Leute auf der Strasse. Aber der Himmel war klar und es hätte kein besseres Wetter sein können für einen Weihnachtsmarkt mit warmer Schokolade! 

Natürlich starrten die Menschen alle ganz ungläubig auf den kleinen Luk, der da mit seiner Wasserpistole und seinem Leiterwagen durch die Strassen fuhr. Wie ein Tiger auf Schlittschuhen sah er aus! 

Es war schon kurz nach Mittag, da kam er zu einem Wald und legte eine Rast ein. Zum Glück hatte er daran gedacht, sich ein Sandwich und einen Apfel einzupacken. Das Wasser trank er ganz vorsichtig aus der Flasche – nicht dass es plötzlich noch gefror! So sass er gemütlich auf einem Baumstamm, eingemummelt in seine gestreiften Winterkleider. 

Plötzlich hörte er ein Knacken und ein Schnauben hinter sich im Gebüsch. Als er sich verwundert umdrehte, blieb ihm fast der Atem stehen. Da blitzten zwei Tigeraugen, die ihn neugierig zwischen den Baumstämmen hindurch anschauten. Aber nicht nur Augen – da waren auch ein Kopf, eine schwarze Nase und vor allem ein riesiges Maul. «Oha!» rief Luk aus und sprang vor Schreck auf. 

Natürlich hatte er noch seine Schlittschuhe an und konnte nicht einfach so davonrennen – und, das hatte er mal in einem Tierfilm gesehen, das wäre auch gar nicht gut gewesen! Wegrennen ist nämlich keine gute Idee bei Tigern. Also ging er langsam davon – einen Waldweg hinauf. Der Tiger schaute ihm nach und trottete dann im gleichen Tempo hinter Luk her. Wenn Luk stehen blieb, blieb auch der Tiger stehen. «Was machst du denn eigentlich hier?», getraute sich Luk endlich zu fragen, wobei er es ziemlich laut rufen musste, weil der Tiger ein paar Meter entfernt stand. Die grosse und schöne Raubkatze blinzelte. «Ich war so alleine im Wald und ich freue mich so, dass ich einen anderen Tiger getroffen habe! Du hast ein so schönes Fell und deine Krallen haben in der Sonne geblitzt», raunte er mit seiner Tigerstimme. 

Jetzt war alles klar! Der Tiger dachte, dass Luk auch ein Tiger sei – na klar! Das war ja auch kein Wunder, bei den vielen Streifen auf Luks Kleidung. «Puh – ich dachte schon, du wolltest mich fressen. Da bin ich aber erleichtert», antwortete Luk mit einem tiefen Seufzer. Die beiden waren schon ein gutes Stück den Berg heraufgegangen und standen nun vor einem Turm aus Metall. «Was meinst du, wollen wir auf den Turm und schauen, wo wir sind? Ich weiss nämlich nicht mehr genau, wo der Weg zur Stadt durchgeht», schlug Luk vor. Der Tiger blickte etwas argwöhnisch die vielen Stufen hinauf und schien nicht gerade begeistert. «Hm. Na gut. Ausnahmsweise. Ich bin nämlich ein wenig höhenängstlich.» Den letzten Teil hatte er nur geflüstert, weil er sich ein bisschen dafür schämte. «Ach, das ist doch nicht schlimm. Normalerweise gehen wir Menschen…äh…wir Tiger ja auch nicht so hoch hinaus», lachte Luk. 

Also stiegen die beiden auf den Turm. Inzwischen war es Abend geworden und die Sonne versank gerade hinter den Bergen auf der anderen Seite des Tals. Wie wunderschön war der Blick hinab!

Die vielen Weihnachtslichter flackerten unter ihnen im vergehenden Tageslicht. Weil es jetzt noch kälter wurde, kuschelten sich der Tiger und Luk fest aneinander. Als der Himmel nachtblau und voller Sterne über ihnen stand, sprang Luk plötzlich auf. «Schau mal dort!», rief er aufgeregt und zeigte auf einen grossen, leuchtenden Stern auf der anderen Seite des Tals, der auf einem hohen Kran prangte. «Das ist sicher der Weihnachtsstern…», murmelte Luk leise und der Tiger schaute ihn mit seinen grossen Augen an. 

«Weisst du was?», rief Luk und klopfte dem Tiger auf die Schulter, «wir können dahin gehen, zu dem Stern! Ich weiss wie!» Voller Begeisterung wühlte er in seinem Reiserucksack. Darin befand sich ein langes Seil. Der Tiger sah ihn verständnislos an. «Schau mal die vielen Kräne! Wir können uns von einem zum anderen schwingen und am Schluss sind wir beim Stern! Das ist einfach super!» Dann erinnerte sich Luk an die Höhenangst seines Freundes und fügte rasch hinzu: «Ich halte dich auch ganz fest, versprochen.» Der Tiger zog ein so langes Gesicht, wie es einem Tiger überhaupt nur möglich ist. Doch dann straffte er die Schultern und nickte. 

Luk band also das Seil um sie beide und sie schwangen sich von einem Kran zum nächsten, über den weiten Nachthimmel. Das wäre sicher nicht möglich gewesen an einem gewöhnlichen Tag und bei einem gewöhnlichen Jungen. Aber es war heute kein gewöhnlicher Tag und Luk war ein ganz besonderer Junge. Und bestimmt war auch der Tiger kein gewöhnlicher Tiger – denn was hätte er denn sonst im Liestaler Wald gemacht? Am Ende nun sassen die beiden bei dem schönen, leuchtenden Stern auf dem höchsten Kran und schauten hinab – auf das Stedtli, das sich da vor ihnen ausbereite, mit den grossen und kleinen Häusern, dem Dachgiebelwald der Altstadt, dem Neuen und dem Alten und natürlich dem hell leuchtenden Weihnachtsmarkt, der sich an die Häuserzeilen im Herzen der Stadt schmiegte. «Was meinst du», fragte Luk den Tiger, «wollen wir noch am Märt bei den Geissli vorbeischauen?»

Diese Geschichte kam aus den Herzen und Mündern von Levy und Julian, meinen beiden Söhnen. Wie schön unkonventionell und wundervoll Kinderphantasie doch ist. Ein wenig realistischen Rahmen musste ich dann doch noch hinzufügen (wie zum Beispiel den Abenteuerrucksack mit dem Seil). Ursprünglich war noch ein Elefant involviert, aber der hätte wohl die Tragkraft des Seils endgültig überstrapaziert. Ich hoffe, dass es auch mit dem Tiger eine ganz vergnügliche Weihnachtsgeschichte geworden ist.